Entnommen
aus Simlify Texte
Evangelische Morgenfeier am Sonntag Septuagesimä,
16. Februar 2003, 10.05 Uhr, Bayern 1
Opfer
Was tun wir Menschen,
wenn wir nichts mehr tun können? Wenn wir vor Herausforderungen stehen, die größer
sind als wir selbst? Solche Situationen gibt es ja genug.
Bei Naturkatastrophen,
ja eigentlich schon bei ganz normalen Vorgängen in der Natur: Was können wir
tun, damit die Saat aufgeht, damit die Ernte nicht zerstört wird?
Oder wenn ein Mensch krank wird. Trotz aller
Fortschritte in der Medizin - wir spüren, dass jede Krankheit den Keim
des Todes in sich trägt. Wenn der Arzt sagt: „Da kann ich nichts mehr tun.“ -
Vielleicht gibt es aber doch noch Hoffnung?
Oder in menschlichen Beziehungen, etwa wenn ich merke, wie ich von einem
anderen gehasst, beneidet, bekämpft - oder einfach nicht mehr geliebt werde.
Ich würde den anderen so gerne ändern. Aber wie?
Oder wenn wir hilflos vor Trümmern stehen - seien es die Trümmer eines Autos
oder einer Raumfähre. Oder die unfassbaren Trümmer eines absichtlich, gewaltsam
zerstörten Wolkenkratzers. Hilflos stehen wir vor dem Terror und den kranken
Einfällen einiger weniger.
Opfer, ein menschlicher
Urtrieb
Was tun wir, wenn wir
nichts mehr tun können? Es gibt eine uralte Antwort darauf: Wir opfern. Und
zwar uns selbst. Wenigstens ein bisschen von uns, ein Stück von unserem Glück.
Oder auch mehr. Das ist ganz tief in uns Menschen drin, es stammt aus der
Steinzeit und wahrscheinlich von noch viel früher.
Wir Menschen durchleben
in unserer Entwicklung vom Säugling bis zum Erwachsenen noch einmal die ganze,
Hunderte Generationen dauernde Entwicklung des menschlichen Geistes. Vielleicht
erinnern sich manche von Ihnen an solche steinzeitlichen Opferphantasien, meist
so um die Pubertät herum: „Wenn Mama wieder gesund wird, dann will ich immer
ganz brav sein.“ - „Ich will in der nächsten Zeit auf alle Vergnügungen
verzichten, wenn ich doch nur die 9. Klasse schaffe!“
Oder, eine historische
Geschichte: „Hilf, heilige Anna, wenn ich das überlebe, will ich ein Mönch
werden!“ So hat Martin Luther als junger Mann in einem Gewitter gerufen, und er
hat sein Opfer gebracht.
Sich opfern, das ist
aber nicht nur auf die Jugendjahre beschränkt. Das gibt es auch später noch. Es
geschieht oft sogar unbewusst. Es ist ein Urmechanismus in unserer Seele. Wie
ein Trieb, als geheimnisvolle Gegenkraft zum Selbsterhaltungstrieb.
Diese Opferbereitschaft
gibt es in klein und in groß. Menschen geben etwas ab von ihrem Besitz, sie
geben etwas von ihrer Zeit, von ihrer Freude, von ihrer Gesundheit, bis hin zu
ihrem Leben.
Eine der ersten
Geschichten in der Bibel handelt davon:
Kain brachte dem Herrn Opfer von den Früchten des Feldes. Und auch
Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde. Und der Herr sah gnädig an Abel
und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.
(1. Mose/Genesis 4, 3-5)
Da wird das Ur-Opfer
verbunden mit der Ur-Katastrophe. Es ist eine dunkle, undurchsichtige
Geschichte. Warum sah Gott den einen gnädig an, den anderen nicht? Wie wurde
das sichtbar? Viele Menschen sind geprägt von den Bildern aus dem Gottbüchlein,
in dem zu sehen ist, wie der Rauch von Abels Altar nach oben steigt und der von
Kain nach unten. Aber davon ist in der Bibel selbst nicht die Rede. Gott bleibt
im Dunkel. Wahrscheinlicher ist, dass sich im Verlauf des Jahres Abels Tiere
vermehrten, Kain aber eine schlechte Ernte hatte. Am sichtbaren Segen glaubten
die Menschen ablesen zu können, ob Gott das Opfer annahm oder nicht.
Sie schließen dabei von
einem Geschehen in der Natur auf Gott. Das ist das Grundproblem in Sachen
Opfer: Man glaubt zu wissen, wie der empfindet, für den man opfert. Die
Psychologen würden heute dazu sagen: Das ist eine Projektion. Man schließt von
den eigenen Empfindungen auf Gott. Wie Gott aber wirklich ist, weiß man in
Wirklichkeit nicht. Was immer für Aussagen der Mensch über Gott macht - Gott
ist größer.
Sanctus. Gesungen vom
Chor Exaudi (Kuba) und den Benediktinermönchen von Silos. Aus der CD „Esteban
Salas“, Musica Sagrada de Cuba.
Gott will kein Opfer
Das Opfer verändert Gott
nicht. Wenn wir Menschen uns Gott vorstellen wie einen Menschen, der von
unseren Opfern einen Vorteil hat, dann ist das eine einfältige Projektion. Ob
da ein Ochse gebraten wird oder Getreidekörner in einer Feuerpfanne verbrennen
- Gott ist das egal. Er braucht es nicht. Ja, manchmal ärgert es ihn sogar.
Gott will das Opfer nicht. Weder das von Kain noch das von Abel.
Wenn Sie jetzt
erschrecken oder widersprechen wollen, liebe Hörerinnen und Hörer, dann sind
Sie damit nicht allein. So ging es wohl auch den Menschen, die den Propheten
des Alten Testaments zugehört haben, und die genau das über das Opfer sagten.
Da ist der Prophet Amos.
Er steht im Tempel, in Sichtweite des riesigen gehörnten Brandopferaltars aus
Akazienholz. Und er ruft: „So spricht der Herr: Ich mag eure fetten Dankopfer
nicht ansehen!“ Das schreit er den Menschen ins Gesicht, die gerade ihre
kostbaren Ersparnisse hergegeben haben für eine Ziege oder eine Taube.
Oder Jesaja: „Das Wort
des Herrn: Ich habe eure Brandopfer satt! Ich habe kein Gefallen am Blut der
Stiere, Lämmer und Böcke! Euer Räucherwerk ist mir ein Gräuel!“
„Kritik am Kult“ nennt
man diese Art von Prophetenrede, die es an mehreren Stellen des Alten
Testaments gibt. Doch ich denke, das ist mehr als nur Klagen über einen
falschen Gottesdienst.
Ein anderer Prophet
bringt es noch stärker auf den Punkt: „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am
Opfer.“ So lässt Gott durch Hosea ausrichten, und ich verstehe das so:
Verabschiedet euch endlich von dem Gedanken, dass ich etwas davon hätte, wenn
ihr ein Opfer bringt! Wenn überhaupt jemand etwas von eurem Opfer hat, dann der
Opfernde. Und nicht die Person oder die Idee, der ihr das Opfer darbringt.
Sich aufopfern bedeutet:
Alles geben, so wenig wie möglich nehmen. Wer dieser Logik folgt, wer sich
selbst verzehrt und zu wenig nimmt, verletzt aber das Grundgesetz der Liebe. Es
lautet: Liebe den anderen wie dich selbst. Liebe ist Balance von Geben und
Nehmen. Der eigentliche Gegenbegriff zum Opfer ist die Liebe.
Jesu meine Freude.
Michael Dragic und Jürgen Kandziora, Gitarre. Aus der CD „Saitenweisen“.
Opfer sind für den da, der
opfert
Die Idee des Opfers ist
ganz tief in uns drin. Sie arbeitet in der Tiefe, im Dunkel unserer Seele. Das
Opfer ist ein menschliches Bedürfnis. Ein Tun in Situationen, in denen man
sonst nichts mehr tun kann. Ja, es muss gar nichts zu tun haben mit Gott.
Opfer hat es immer schon
gegeben - als letzte Verzweiflungstat, um einen anderen Menschen zu etwas zu
bewegen. „Ach, wäre doch ich krank und nicht du!“ sagt die Tochter zu ihrer
kranken Mutter. Es gibt große, beeindruckende Geschichten, in denen sich ein
Mensch für einen anderen opfert. Oft, ohne es selbst zu merken. Er opfert sein
Glück, um dem Geliebten nahe zu sein. Solche Opfer sind geboren aus tiefer
Liebe. Aber sie schaffen keine weitere Liebe, sondern Leiden. Sie ersticken die
Liebe und nehmen ihr das Leben.
„Ich will nie mehr
unbekümmert sein“ sagt vielleicht die Seele eines Kindes, das damit den Tod
seines Vaters verhindern will. Oder das Herz eines Mannes sagt: „Ich arbeite
bis zur äußersten Erschöpfung“. Damit möchte er einen Ausgleich schaffen für
all die Opfer, die seine Frau gebracht hat. Und er arbeitet und arbeitet, bis
sein Herz in einem Infarkt zerbricht.
Es gibt auch einen
Opferaspekt in jedem Krieg. Das wird häufig übersehen: Auch für die USA ist der
Irak-Krieg ein riesiges Opfer. Jeder Soldat, der in diesen Krieg zieht, auf beiden
Seiten, tut das mit dem Bewusstsein, dass er sich möglicherweise selbst dabei
opfert. Das sollten wir nicht vergessen. Ja, Krieg definiert sich sogar
dadurch, dass er für alle Beteiligten schrecklich und verlustreich ist. Er ist
immer eine Verzweiflungstat - ein Tun, wenn man nichts mehr tun kann.
Und er ist immer falsch.
Weil diese Art von Opfer immer falsch ist. Bei jeder Aufopferung wird ein hoher
Wert benannt, für den dieses Opfer dargebracht wird: Für die Gesundheit. Für
die Liebe. Für die Freiheit, für die Gerechtigkeit. Oder für Gott. Es ist
gleichgültig, was da genannt wird, denn in jedem dieser Fälle gilt: Gesundheit,
Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit, Gott - genau die haben von dem Opfer nichts.
Die wollen es alle nicht. Opfer im Sinne von Selbstvernichtung widerstrebt
ihnen zutiefst. Sie wollen gerade das nicht. Der einzige, der eventuell etwas
vom Opfer hat, ist der, der das Opfer vollbringt. Er glaubt, etwas zu bekommen,
indem er auf etwas verzichtet. Aber das funktioniert nur höchst selten.
Es gibt wohl Fälle, in
denen tatsächlich ein Mensch durch sein Opfer einem anderen das Leben
ermöglicht, etwa durch eine Organspende. Viel häufiger jedoch geht das Opfer am
vermeintlichen Ziel vorbei. Die kranke Mutter hat nichts davon, dass die
Tochter ihre Gesundheit „für sie“ opfert. Die Mutter träumt (vielleicht, ohne
das jemals laut sagen zu können) von einer fröhlichen, gesunden Tochter, die
das Geschenk des Lebens kräftig weitergibt an ihre Kinder.
Die
Firma hat nichts davon, dass der Mitarbeiter sich „für sie“ kaputt arbeitet.
Ehrenvoller und sogar auf lange Sicht profitabler für das Unternehmen (oder den
Verein, die Gemeinde, den Staat) ist es, wenn die Menschen, die dort arbeiten,
Freude und Kraft gewinnen dabei.
Die
Frau, die in der Tat Opfer gebracht hat für ihre Kinder, hat nichts von einem
Mann, dessen Herz sich krank arbeitet. Sie wünscht sich einen Mann, der ihre
Gefühle teilt und sich mitfreut an dem, was sie gemeinsam geschaffen haben.
„Ich
habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer“ heißt es bei Hosea, und ich
übersetze das so: Gebt nicht, sondern nehmt. Lasst euch beschenken von der
Liebe, die in eurem Opferwillen steckt. Seht das gute Herz, euer eigenes und
das gute Herz des anderen, für den ihr euch opfern wollt. Leidet nicht, sondern
handelt.
Was
helfen uns die schweren Sorgen. Gesungen vom Chor „con spirito“, Leitung David
Plüss. Aus der CD „Das Leben loben“.
Der vermeintliche Opfertod
Christi
Der Tod Jesu muss für
seine Freunde und Jünger ein schockierendes Ereignis gewesen sein. Wer schockiert
ist, sucht Erklärungen, und so kam man recht bald nach seinem Tod auf den
Gedanken: Jesus hat sich geopfert. Er hat Gott und Mensch versöhnt. Doch dieser
Erklärungsversuch ist teuer erkauft, denn er verzerrt das Bild Gottes: Ein
Gott, der voller Zorn auf die Menschen ist und mit einem blutigen Menschenopfer
versöhnt und ruhiggestellt werden muss. Nein, so kann der Gott nicht sein, der
Mensch geworden ist!
Ich sehe die Propheten
Amos, Hosea und Jesaja neben der Hinrichtungsstätte in Golgatha stehen und
sagen: „So spricht der Herr: Ich habe keinen Gefallen am Opfer. Auch an diesem
nicht. Ich, der Vater meines geliebten Sohnes, bin kein blutrünstiger,
rachsüchtiger, menschenfeindlicher Gott. Ich bin kein Gott des Opfers, sondern
der Liebe.“
Das Opfer verändert Gott
nicht. Das gilt auch für die Kreuzigung Christi. Gott war auch schon vor dem
vermeintlichen Menschenopfer Jesu ein gnädiger Gott. Er hat ganz und gar keinen
Gefallen am Tod Jesu. Im Gegenteil, er leidet furchtbar daran. Es schmerzt und
quält ihn. Und - er handelt. Am dritten Tag besiegt er den Tod. Das Leben ist
stärker als das Opfer. Das ist für mich die tiefste Kraft des christlichen
Glaubens. Christus hat uns aus der Opferrolle befreit, befreit zum Handeln.
Den kürzesten Ausdruck
einer solchen, wie ich finde, erwachsenen Einstellung zum Opfer habe ich in dem
Gebet des Jabez gefunden, dieses nach Jahrhunderten wiederentdeckte kleine
Gebet, das sich in der Bibel versteckt hat, mitten in den Ahnentafeln des 1.
Buchs der Chronik (1. Chronik 4, 10):
Segne mich, und
erweitere mein Gebiet. Lass deine Hand mit mir sein, und halte Schmerz und
Unglück von mir fern.
Ja, Schmerz und Unglück
existieren. Sie gehören zum Leben, niemals werden sie sich für immer abschaffen
lassen. Aber sie müssen nicht die Herrschaft in meinem Leben übernehmen. Der
Segen Gottes ist stärker. Seine schützende, liebevolle Hand ist kraftvoller als
die Versuchung, mich selbst zu opfern. Gott eröffnet mir neue Räume, er befreit
aus den Zwängen des Opfers und von meinen Selbstvernichtungs‑phantasien.
An seiner Hand werde ich mich dem Unglück nicht ergeben, sondern es bekämpfen.
Denn ich weiß: Schmerz
und Unglück werden nicht dadurch weniger, dass ich möglichst viel davon auf
mich lade. Ich bin erwachsen. Ich bin über die Steinzeit der blutigen
Menschenopferaltäre hinaus. Ich will die Kraft der Liebe erfahren und die
falschen Versprechungen des Mich-selbst-Aufopferns durchschauen.
Jesus starb nicht, weil
er damit Gott versöhnen wollte. Sondern er starb, weil er so verbunden war mit
seinem Vater. Jesus hat sich mit ihm an den schwärzesten Punkt des Menschseins
begeben: von Gott und von allen Menschen verlassen, verloren und gefoltert, in
schrecklichster Einsamkeit. Weil er die Menschen geliebt hat, wollte er ihnen
auch dorthin folgen. Sein Tod war die Konsequenz seiner Liebe. Das ist ein
fundamentaler Unterschied: Liebe statt Opfer.
Sind Opfer und Leiden
nun etwas Schlechtes? Nein. Sind Opfer und Leiden etwas Gutes? Ebenfalls Nein. Das
Opfer an sich ist gar nichts. Es ist ein gefährlicher Irrtum, zu glauben, es
wäre schon ein Wert an sich. Denn meist hat der, für den es gemeint ist, gar
nichts davon. Leiden und Schmerz können große Lehrmeister sein. Das stimmt.
Aber es gibt auch Leiden, die einen nichts lehren, gar nichts. Leiden, die
niemand nehmen muss. Schmerzen, die den Menschen erspart werden sollten.
Viele
von Ihnen werden das berühmte Gebet von Friedrich Christoph Oetinger kennen,
das so beginnt: Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Ich möchte es so abwandeln:
Herr, gib mir die Kraft, die Leiden zu
ertragen, die ich ertragen muss.
Gib mir den Mut, die Leiden zu lassen, die ich lassen kann.
Und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Herr, segne uns. Gesungen vom Chor
„Ninive“. Aus der CD „Ninive 4“.
Vater unser ...
Der
unerschütterliche, verlässliche Friede Gottes,
und die reiche, sich verschenkende Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
und die grenzenlose Weisheit seines Geistes, sei mit uns allen. Amen.