Simson - ein Mensch zwischen Kraft und Ohnmacht
Die Geschichte Simsons, die uns schon als Kinder gewaltig imponiert hat, ist eine der stärksten, aber auch abenteuerlichsten Erzählungen des Alten Testamentes. Sie spielt in der Zeit, in der die Philister über Israel herrschten. Als Gottgeweihter sollte Simson über außergewöhnliche Kräfte verfügen - vorausgesetzt, daß nie ein Schermesser sein Haupt berühre. Sein Name (manchmal auch Samson genannt) heißt so viel wie"die kleine Sonne".
Die Verkettung der Umstände
Dieser ungewöhnliche Mann erregte Aufsehen durch seine Stärke, seine Kämpfe, seinen Richterberuf und seine Schwäche für Frauen. Frauentränen machen ihn schwach und unvorsichtig. Weinen ist eines der stärksten Ausdrucksphänomene des Menschen. Nur er kann weinen, jedenfalls in dieser herzzerreißenden, bewegenden Weise. Einen Menschen weinen zu sehen bewegt unser Herz und bleibt nicht ohne Wirkung. Wir wenden uns ihm zu, werden schwach ums Herz, schenken ihm Vertrauen und kommen ihm weiter entgegen, als wir es unbewegten Herzens wohl getan hätten. Tränen weichen uns auf und lassen Grundsätze vergessen. Und Frauen sind hierin manchmal Künstler, ja, sie können nicht selten - wie Simsons Frau - auch künstlich Tränen erzeugen und tiefere Gefühlsregungen vortäuschen. So erging es Simson. Die Tränen seiner Frau lassen ihn unsicher werden und nicht merken, daß sie zu den"falschen Freunden" zählt, ihn verrät und hintergeht. Auch vor Freunden muß man sich hüten. Ein bekannter deutscher Politiker überschrieb sein aufsehenerregendes Buch "Vorsicht vor Freunden". Gerade nahestehende Menschen können uns zum Verhängnis werden, wenn sie unser Vertrauen mißbrauchen.
Mit kämpferischem Einsatz will Simson die Probleme lösen, so wie Alexander den Gordischen Knoten durchschlug und damit das Rätsel löste. Aber Gewalt zerstört. Das ist - nach Schiller - "der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären". Simson zerstört die Ehe und verliert seine Frau. Die Kette des Bösen geht weiter. Aber immer findet Simson zu Gott zurück.
Bis dahin ist die Geschichte Simsons die Geschichte eines Mannes, der alle Kraft aus Gott und seiner begleitenden Hilfe bezieht, aber dennoch Irrwege geht. Schier Übermenschliches und Legendäres leistet er. Eine beachtenswerte Erscheinung, ein Mann, der sich auf Gott verläßt und auf den Gott sich einläßt. Welch eine Geschichte, die uns die ganze Dramatik des Alten Testamentes eröffnet.
Die Frau, die überlegen war
Simson zeigt sich - im Vergleich zu anderen Männern - erobernder und besitzergreifender. Die männliche Triebkraft hat von Natur aus etwas Aggressives und Eroberndes. Es genügt ein optischer Reiz durch weibliche Umrisse, um diese Triebkraft auszulösen. Zunächst ist es eine käufliche Frau, die Simson beiläufig sieht und die seinen Eroberungsdrang weckt. Es ist kein Zufall, daß Prostitution hauptsächlich von Frauen für Männer ausgeübt wird. Das Umgekehrte ist seltener, nicht weil Frauen keine sexuellen Bedürfnisse hätten, sondern weil sie weniger durch optische und einseitig sexuelle Reize angesprochen werden. Frauen sind ganzheitlicher in ihrem Wesen. Ihnen sind Haltung und Charakter, Treue und Zuverlässigkeit, Beständigkeit und Vertrauenswürdigkeit wichtiger als die augenblickliche Lust und die schnelle, flüchtige Erfüllung.
Simson schwankt zwischen sexueller Ohnmacht und übermächtiger körperlicher Stärke. Das Drama von Ohnmacht und Stärke wird immer erst dadurch faszinierend, wenn ein scheinbar Ohnmächtiger sich als stärker erweist. In der Dialektik von Macht und Ohnmacht liegt die eigentliche Dramatik der Weit- und Heilsgeschichte: Die Schwäche des gepanzerten Siegfried ist das Lindenblatt auf seinem Rücken, die Stärke des David gegen Goliath liegt in seinem Mut und der einfachen Steinschleuder, und der schlafende Simson ist von zarter Frauenhand leicht zu besiegen, die ihm lautlos seine Locken schert. Alle Macht hat ihre Schwäche, und in der Schwäche liegt oft überlegene Stärke: Die Stärke der Frau findet sich - da körperlich meist unterlegen - in ihrer verführenden List, in ihrer erweichenden Eindringlichkeit, im beherzten Zugriff, der den entscheidenden Augenblick der Schwäche nutzt, und nicht selten in geistiger Überlegenheit.
Hier zeigt sich, daß eine überlegene männliche Potenz nur eine scheinbare Stärke ist - in Wahrheit macht sie abhängig von dem Objekt des Begehrens. Der Begehrte ist der eigentlich Starke, er hat den Werbenden in der Hand. So ist es auch in einer Liebesbeziehung, in der die Zuneigung nie völlig gleich verteilt ist, der Mehrgeliebte zugleich auch über mehr Macht verfügt. Der Liebendere mag der Glücklichere sein, immer aber ist er in der Gefahr größerer Abhängigkeit, weil er gewinnen, es recht machen, den anderen nicht verstimmen, bei Laune halten möchte.
Simsons göttlicher Auftrag ist die Niederringung der Philister, aber seine persönliche Neigung geht zu den Vertreterinnen des schönen Geschlechts. Das wird ihm zum Verhängnis. Er ist einerseits Exponent der Stärke, des Mutes, der Durchsetzung. Er imponiert, wirft sich in die Schanze, setzt sich bis zum äußersten ein und sein Leben aufs Spiel. Andererseits läßt er sich leiten und verführen. Unmerklich und mit zarten Banden, die fester binden als die stärksten Seile, umgarnt Delila ihn und übernimmt die Führung, auch wenn dies für den Betroffenen und die Außenwelt nicht klar erkennbar ist. Delila jedenfalls weiß, was sie tun muß, scheut sich auch nicht, auf Außergewöhliches einzugehen, um dafür den Geliebten - oder wohl richtiger den Liebenden oder Verliebten - zu verraten. Sie ist diejenige, die ihn besiegt.
Der männlichen Sexualität ist bei aller Stärke eine elementare Schwäche eigen. Nicht ohne Grund spricht man davon, daß jemand "eine Schwäche für das schöne Geschlecht" hat oder von der "schwachen Stunde" und meint damit den Augenblick, in dem er alle Vernunft und allen Gehorsam gegenüber Gottes Geboten beiseite wirft und sich seinen Triebwünschen hingibt. Wer dabei der Verführer und wer der Verführte ist, läßt sich selten klar trennen. Sicher aber hat die Natur das weibliche Geschlecht mit mehr Verführungskräften und -künsten ausgestattet als den Mann, der allzuleicht der Schwache ist, aber meistens gern darauf eingeht.
Auch in der Ehe gibt es dieses Spiel, und es beschränkt sich nicht auf den Bereich der Sexualität. Was kann eine Frau einem Mann nicht alles entlocken und entlisten! Frauen sind flexibler, diplomatischer, psychologisch versierter und stellen sich eher auf die Bedürfnisse des andern ein, um ihn zu manipulieren. Denn wer die Bedürfnisse des andern kennt, kann ihm deren Erfüllung anbieten oder auch vorspiegeln, um sich dadurch Vorteile oder eigene Wunscherfüllungen zu verschaffen. Die Mittel, mit denen Männer überlistet und "weichgeklopft' werden, reichen von süßen Komplimenten, bewunderndem Lob über falsche Tränen, Lügen und Täuschungen bis hin zu Drohungen, Erpressungen und Einimpfung von Schuldgefühlen. Nicht zuletzt wird mit der sexuellen Abhängigkeit, ja Hörigkeit des Mannes gerechnet und wirksam operiert. Der Mann wirkt demgegenüber eher plump und tollpatschig. Auf so viele Tricks kommt er gar nicht, schon weil er die Frau eher für entgegenkommend und gutwillig hält. Darum geht er auch nicht den Weg List gegen List, sondern läßt sich leichter durch Reiz und Verrat zur plumpen Gewalt veranlassen. Schon die körperliche Stärke legt ihm diesen Weg meist nahe, denn sprachlich und intellektuell sind Frauen häufig beweglicher und geschickter.
Bei aller Einheitlichkeit sexueller Anlagen und der entsprechenden Gegensätzlichkeit von Mann und Frau wird sich der Christ um ein Verständnis von Sexualität bemühen, das eng mit Liebe, Ehe und Familie verbunden ist. Gerade das Beispiel Simson zeigt die Verführbarkeit des Menschen mit der Gefahr, die Sexualität isoliert und herausgenommen aus dem bergenden Kontext von Ehe und Familie zu einer frei flutenden Naturkraft verkommen zu lassen, die letztlich nur Unsinns- und Gewalttaten anrichtet. Ist die Sexualität aber in personale Liebe und menschliche Verantwortung eingebunden und langfristig an eheliche und familiäre Partnerschaft geknüpft, so ist ein Mißbrauch, wenn nicht ausgeschlossen, so doch erheblich unwahrscheinlicher. Insofern haben die eheschützenden Bestimmungen der Gebote (wie auch die Sitten und des bei uns geltenden Grundgesetzes) diese Einbettung betont. An Simson läßt sich ablesen, was auch die Bergpredigt Jesu meint: "Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren..." An diesem negativen Fall wird das positive Ziel deutlicher erkenn-
Die Endabrechnung - welche Wegweisung erhalten wir?
Was die Verführbarkeit des Menschen angeht, kann man sie nicht weitreichend genug einschätzen. Die Bibel, die von den meisten für ein frommes und stubenreines Buch gehalten wird, zeigt vor allem im Alten Testament Geschichten mit Beispielen sexueller Verführbarkeit und aggressiven Kraftüberschusses. Und heute? Es bedarf nur hinreichender optischer Gegebenheiten, ungehemmter Darbietung und verführender Überlistung,-um Menschen, insbesondere Männer in
diesen Sog hineinzuziehen. Unsere Gesellschaft ist für diesen Trend offen, propagiert derartige Reize und preist sie bedenkenlos an. So ist Verführbarkeit nicht
mehr als solche diskreditiert, sondern verwandelt sich in Stolz auf Potenz und Begehrtsein. Waren Begierde und Begehrlichkeit ehedem Sünden, so werden sie auf diesem Hintergrund eher zu Tugenden. Eine weitgehende Umwertung der Werte hat eingesetzt und prägt die Gegenwartskultur mehr als manches andere Kennzeichen. Vermarktung und Konsumierbarkeit vereinnahmen Sexualität wie ein Strudel. Alles wird zum unter schiedslos "verzehrbaren" Verbrauchsartikel.
Differenzierende, gefühlsbetont werbende und respektvolle Einstellungen geraten demgegenüber ins Hintertreffen und müssen erst aktiv und mühsam wieder ins Bewußtsein gebracht und zutage gehoben werden. Diese qualitative Aufwertung sollte heute mehr denn je lohnende Aufgabe von Publizistik und Pädagogik sein. Nur durch Verantwortung tragendes, phantasievolles und überzeugtes Bemühen kann man Irrwegen begegnen.
Mit seltener Raffinesse erlauben modernste Darbietungstechniken, das ganze Repertoire der Verführungs- und Verlockungskunst unentwegt an den Mann zu bringen. Dagegen wirkt natürlich das Mittel der Abstumpfung: Was uns bis zum Überdruß angeboten wird, nehmen wir schließlich gar nicht mehr wahr, oder es regt uns jedenfalls nicht mehr auf - weder positiv noch negativ. Wer aber in der Abstumpfung keine"ethische Qualität" sieht, wird sich auf Ironie und Herablassung besinnen und versuchen, mit ein paar kurzen, aber treffenden Bemerkungen die Verwirrung auf sich selbst zurückfallen zu lassen, weil ihr raff iniertes Spiel als durchschaubar entlarvt wurde. Wichtiger und wirksamer sind eine verantwortlich geführte, sachlich fundierte und gute Gegenargumentation, eine besonnene und ausgewogene Beurteilung, das Plädoyer zugunsten des Menschen, und zwar des ganzheitlichen, nicht auf seinen Genitalbereich reduzierten Menschen. Das hat gute Chancen und gerade heute seine Stunde.
Dabei lassen sich Argumente, die den modernen Menschen und seine Welt betreffen, mühelos und wirksam in Vergleich setzen mit den Situationen, die die Bibel uns beschreibt. Muster sexuellen Verhaltens im Positiven wie im Negativen bieten uns die Beispiele von Isaak und Rebekka, von Daniel und der Frau des Potiphar, von David und der Frau des Uria, die Liebenden im Hohenlied und eben auch Simson und Delila. Aus der Heiligen Schrift lassen sich klare ethische Konturen ableiten, wie eine Lebensführung sein sollte und wie sie den Christen geziemt. Die biblischen Gestalten sind von einprägsamer Vitalität und Stärke im guten wie im bösen und darum auch von unverminderter Aktualität.
Für Simson sind die Folgen zunächst furchtbar: Die Feinde kommen über ihn, schädigen ihn körperlich und demütigen ihn seelisch, nachdem ihn der Geist Gottes verlassen hat. Dabei ahnen die Gegner nicht, daß Simson Kraft aus der Krise gezogen hat, daß Gott sich ihm neu zuwendet, um das geplante Werk fortzuführen. Gott zeigt, daß er der Herr ist und kein anderer. Was nun folgt, hat sich der Phantasie über Jahrtausende eingeprägt in einer gewaltigen und erschütternden Fürchterlichkeit, die in ihrer Wucht griechischen Tragödien gleichrangig zugesellt werden kann. So haben auch Leben und Ende Simsons die Dichter und Maler zu bleibender Gestaltung gereizt: Hans Sachs und Frank Wedekind haben ihm Dramen gewidmet, Saint-Saäns gar eine Oper, Händel ein Singspiel, Dürer, Rembrandt, Rubens und Liebermann ausdrucksstarke Gemälde, ferner entstanden aufregende Breitwandfilme. Menschliches verknüpft sich mit Göttlichem auf eine schwer faßbare Weise. Zugleich mischen sich Schuld und Tragik in einer unauflösbaren Art, Triumph und Niederlage, Krise und Kraft.
Simson beweist ein letztes Mal seine ungeheuerlichen überirdischen Kräfte: Er tastet nach den tragenden Säulen des Portals in jenem riesigen Palast, in dem sich tausende Philister versammelt haben, um den stolzen Sieg über diesen unbändigen Titanen zu genießen. Damit hat es jedoch im Namen Gottes ein jähes und schreckliches Ende. Gottes Absicht erfüllt sich: Er begräbt unter riesigen Quadern seine Feinde - und auch Simson.
Die ganze dramatische Geschichte zwischen Simson und den Philistern: am Ende nur Blut, Schweiß und Tränen, nur Besiegte, aber keine Sieger, Vernichtung und Tod. Es scheint in allen kriegerischen Auseinandersetzungen aller Völker so zu sein, daß die Rechnung keiner Seite aufgeht und die Folgen immer furchtbarer sind als die ursprünglichen Absichten. Auch hier ist das Resultat für die Betroffenen schrecklich und tödlich.
Welch ein Aufwand, welche Umwege, welch eine zu Herzen gehende Dramaturgie der Weltgeschichte liegen hinter diesen Auseinandersetzungen! Sinn kann ihr nur abgewinnen, wer bereit ist, hinter der blutigen Spur der Geschichte die unbekannte Handschrift des Verfassers zu suchen und zu erkennen, jenes Planen Gottes, der zu seinem Volk hält und es durch Höhen und Tiefen schließlich zum Ziel führt.
Artikel aus Sexualethik und Seelsorge des Weißen Kreuzes G. N.