Entnommen aus Siplify-Texte

Evangelische Morgenfeier am 16. Sonntag nach Trinitatis,
15. September 2002, 10.05 Uhr, Bayern 1

Wie kann Gott das zulassen?

 

Warum ich? Warum nicht ich? Wer ist schuld? Oder überhaupt einfach nur: Warum? Oder die Frage, die einen erstarren lässt: Wie kann Gott das zulassen? So frage ich, und mit mir Millionen von Menschen, jeden Tag. Immer und immer wieder geschehen Ereignisse, für die es keine Antworten gibt, nur Fragen.

Das kann die schreckliche Krankheit sein, von der ich seit einiger Zeit weiß und immer wieder frage: Warum ich?

Das kann der Unfall sein, der den liebsten Menschen aus meinem Leben gerissen und in mir die Frage der Liebe zurückgelassen hat: Warum nicht ich?

Das kann die große Flut sein, die vor einem Monat aus harmlosen Flüssen stinkende, braune Wassermassen gemacht hat, und immer wieder die Frage: Wer ist schuld?

Das kann der Anschlag auf das Pentagon und das World Trade Center sein, der vor einem Jahr und 4 Tagen die Welt erschütterte – zurück blieben Staub, Ohnmacht, Zorn, und die Frage: Warum?

Und über allem, ausgesprochen oder unausgesprochen, sozusagen die größtmögliche Frage: Wie kann Gott das zulassen? Es ist eine eigenartige Frage, liebe Hörerinnen und Hörer, und je mehr man sich mit ihr befasst, um so eigenartiger wird sie. So ging es jedenfalls mir. Ich bin dabei auf neue, manchmal überraschende neue Wege gestoßen, und von diesen Entdeckungen möchte ich Ihnen erzählen.

1. Entdeckung: Eine Frage macht Aussagen über den Frager

Die erste Entdeckung: Eine Frage macht eher eine Aussage über den Fragenden als über das Gefragte. In Bezug auf den, der eine Frage stellt, enthält die Frage bereits eine Antwort. Bevor man also über den Gott spricht, der womöglich etwas zulässt, sollte man über den Menschen sprechen, der fragt: Wie kann Gott das zulassen?

Die meisten Menschen glauben mit einer Art Urvertrauen, dass die Welt verstehbar ist und gerecht. Sie spüren tief in ihrem Inneren, dass jedes Glück seinen Preis hat und jede Entbehrung ihre Entlohnung. Meistens zumindest. Wenn aber ein Mensch stirbt, den ich geliebt habe, oder wenn irgend eine andere Katastrophe mich ereilt, dann stürzt dieses Vertrauen erst einmal in sich zusammen. Zu der äußeren Katastrophe kommt dann eine innere. Und diese innere Katastrophe richtet wohl häufig mehr Schaden an als all das Schreckliche, was draußen passiert. Glauben und Vertrauen gehen da in die Brüche, ein ganz wichtiger Teil von mir selbst.

Weil ich als Mensch meine Grundidee von der verstehbaren und gerechten Welt aber nicht aufgeben will, suche ich nach Erklärungen, und das ist mein gutes Recht. Da gibt es verschiedene Ansätze.

Selbstvorwürfe

Die naheliegendste Lösung sind Selbstvorwürfe. Indem sich ein Mensch eingesteht, an dem Geschehenen mitschuldig zu sein, lädt er sich zwar etwas Schweres auf. Aber er hat den Trost, nicht mehr hilflos in der Welt zu leben. Einer Welt, die außerhalb seiner Kontrolle wäre. Nach der Terrorattacke auf die USA gab es auch solche Selbstvorwürfe: Wir haben die Dritte Welt ausgebeutet bis aufs Blut, wir haben die islamischen Staaten gedemütigt, irgendwann mussten die ja zurückschlagen. Oder: Wir wurden mit unseren eigenen Waffen geschlagen – High-Tech-Flugzeuge aus unserer eigenen Produktion gegen unsere Turmbauten von Babel. Beim Hochwasser im August hieß es: Der Mensch hat die Flüsse begradigt, er hat die Natur ausgebeutet, und sie wird immer wieder zurückschlagen.

„Der Mensch“ in der Einzahl, das erinnert mich manchmal an die Einzahl, in der man ja auch von Gott spricht. „Der Mensch“, das ist eine große, undefinierbare Macht. Natürlich zählt man sich selbst auch irgendwie dazu. Aber gleichzeitig auch wieder nicht. „Der Mensch“ rückt einen selbst weit weg. „Der Mensch“ ist eher nicht ich. Wer würde darauf kommen, bei der Gedenkfeier für die Toten des 11. September 2001 zu beten: „Verzeih mir, oh Herr, dass ich die Ungerechtigkeit der Weltwirtschaft bewirkt habe“? Wer würde in einem Gottesdienst für die Flutopfer nach vorne treten und sagen: „Vergib mir, dass ich die Auenlandschaften Europas zerstört habe“?

Vorwürfe gegen andere

So gehen die Selbstvorwürfe sehr bald über in Vorwürfe an andere: Warum wurde das World Trade Center nicht schneller evakuiert? Warum haben die Sicherheitskontrollen am Flughafen versagt? Wer hat diese Verrückten einreisen lassen? Warum durfte in diesen Überschwemmungsgebieten überhaupt gebaut werden? Warum wird immer mehr Bodenfläche versiegelt? Warum hat man mich nicht schon früher vor dieser Krankheit gewarnt?

Solche Schuldzuweisungen erfüllen die gleiche Aufgabe wie die Selbstvorwürfe: Wenn sich alle Schuldigen einer Katastrophe finden ließen und vor ein Gericht gestellt würden, dann bleibt das Gedankengebäude von Ursache und Wirkung erhalten. Selbst wenn die Schuldigen so weit weg sind, dass sie wohl niemals verurteilt werden könnten – schon die Vorstellung entlastet etwas, dass wir sie in Gedanken vor ein Gericht gestellt haben.

Vorwürfe gegen Gott

Das gilt auch dann, wenn der Schuldige noch viel weiter oben gesucht wird. Wenn er Gott, Weltvernunft oder Natur genannt wird. Auch hier lautet der Grundgedanke: Hinter unserer Welt waltet ein höherer Zweck. War der Angriff auf die USA vielleicht ein notwendiger Weckruf zum Umdenken? Ist eine Überschwemmung ein Racheakt der ausgebeuteten Natur? Sind das die Tage des Zorns? Ist unser Leid der Preis, den wir zahlen müssen an irgendeine unbegreifliche Macht?

Wolfgang Amadeus Mozart hat am Ende seines nicht besonders langen Lebens ein Requiem komponiert, eine Totenmesse. Es war eine Auftragsarbeit für einen anderen, aber man weiß heute, dass er sie geschrieben hat, während sein Körper längst vergiftet und zerfressen war von absurden, angeblich hilfreichen Medikamenten. Und so ist sein „Dies Irae“, der Tag des Zorns, ein wü tender Aufschrei gegen die Schrecken des Sterbens und gegen seinen eigenen Tod. Von Chor und Orchester geradeaus hinausgeschrieen, ohne all die kunstvollen Verzierungen und Nebenlinien, die sonst Mozarts Werke durchziehen.

Tag der Rache, Tag der Sünden,
Wird das Weltall sich entzünden?
Welch ein Graus wird’s sein und Zagen,
Wenn der Richter kommt mit Fragen.

Musik: Mozart, Dies Irae

2. Entdeckung: Gott ist anders

Wie kann Gott das zulassen? Das wird schon in der Bibel gefragt. Es gibt dort ein eigenes Buch, das sich ausschließlich dieser Frage widmet: das Buch Hiob. Unter Theologen gibt es eine unausgesprochene Abmachung, über das Buch Hiob erst zu predigen, wenn man selbst mindestens 60 Jahre alt ist – so tief steigt es hinab in die schwierigsten Grundfragen unseres Lebens. Wenn ich mit meinen 49 Jahren trotzdem über Hiob spreche, dann tue ich das unter diesem Vorbehalt.

Die eigentliche Story des Hiob ist kurz: Es ist keine Kunst, an Gott zu glauben, wenn es einem gut geht. Wie sieht es aber aus bei einem frommen Menschen, wenn ihm alles genommen wird? So fragt der Satan am Beginn des Buches Hiob, und Gott lässt sich auf das Experiment ein. Hiob, ein durch und durch rechtschaffener und tief gläubiger Mann, erleidet schwerste Schicksalsschläge: Sein gesamter Besitz, sein Personal und alle seine Kinder werden von Räubern und Naturkatastrophen dahingerafft. Nur seine Frau bleibt am Leben, er selbst wird von schrecklichen Krankheiten geplagt. Aber Hiob besteht alle Prüfungen. Er sagt auch im Leid große Sätze: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.“ Und: „Wenn wir so viel Gutes empfangen haben von Gott, sollten wir nicht auch das Böse von ihm annehmen?“

Es kommen drei Freunde, die mit Hiob trauern und zunächst schweigen, 7 Tage und 7 Nächte lang. Danach halten sie alle viele lange Reden, und immer geht es um das eine: Wie kann Gott das zulassen? Wer ist schuld?

Für die Freunde, fromme Juden wie Hiob, ist es klar: Gott lässt keinen Unschuldigen leiden. Irgendeine verborgene Schuld muss es geben. Dann wären die Tage des Zorns in sich schlüssig. Dann gäbe es eine Erklärung. Dann hätte das Leid einen Sinn. Aber Hiob weigert sich, fast 40 Kapitel lang. Er besteht auf seinem Recht. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, und Gott muss ihn erlösen. Hiob klagt Gott an, und die Klage lautet: Gott ist ungerecht. So weit ist noch nie ein Mensch gegangen. Hiob prozessiert gegen Gott: „Hier ist meine Unterschrift!“ ruft er, „der Allmächtige antworte mir!“

Und der Allmächtige antwortet. Da wird es wirklich spannend. Wer hat Recht? Hiob, der auf seinem Recht besteht, auf Grund seiner guten Führung gut behandelt zu werden? Oder die drei Freunde, die auf Gottes Recht bestehen? Für die es klar war: Es gibt eine verborgene Schuld Hiobs?

Gott antwortet. Man könnte auch sagen: Er donnert. Auf den Prozess lässt er sich nicht ein. Er weist das Verfahren zurück. Die Klage wird nicht verhandelt. Gott haut auf den Tisch: „Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sag mir’ s, wenn du so klug bist!“ Gott wischt alle vom Tisch, sowohl Hiob als auch seine drei Freunde. Alles falsch. Wer ist schuld? Man könnte auch sagen, Gott wird wütend über diese Frage. Themaverfehlung! Das ist seine Antwort. Mit der Frage nach der Schuld liegt ihr hier völlig daneben. Eure Alternativen sind falsch.

Im Blick auf die Frage „Wie kann Gott das zulassen?“ ist das der zweite Entdeckung: Gott ist anders. Die Frage trifft ihn nicht. Sie ist an einen anderen Gott gestellt, einen Gott, den wir uns ausgedacht haben, erträumt, nach unserem eigenen Bild erschaffen. Ein Gott, der alles steuert. Wir bilden uns einen Gott ein, der bei jedem Unglück die Entscheidung trifft: Soll ich es zulassen oder nicht? Ein Gott, der straft und richtet. „Tag des Zorns, Tag der Rache, wenn der Richter kommt mit Fragen.“ Das ist ein Lied, von Menschen gedichtet und komponiert. Die Schrecken des Todes sind die Schrecken der Menschen, nicht von Gott erschaffene Schrecken.

Alles ist anders. Das ist die Antwort Gottes. Vergiss das nicht! Don’t forget! So singen Joseph Shabalala und seine Sänger (in Englisch und in der Zulu-Sprache) in dem folgenden Stück aus Südafrika, das ich sehr liebe. Der Text lautet übersetzt:

„Wenn du hier ein Heim hast – vergiss nicht, dass es noch ein anderes Heim gibt für dich. Wenn du hier Freude hast – begreife, dass es noch einen anderen Platz gibt, wo du Freude haben kannst. Und wenn du glaubst, hier die Wahrheit zu haben – begreife, dass es noch eine andere Wahrheit gibt, für immer, für immer, für immer.“

Musik: Joseph Shabalala, Don’t forget!

3. Entdeckung: Die Antwort ist Schweigen

Hiob aber antwortete dem Herrn und sprach: Siehe, ich bin zu gering. Was will ich antworten? Ich will meine Hand auf den Mund legen und schweigen.

Die richtige Antwort auf die Frage „Wie kann Gott das zulassen?“ ist, nicht zu antworten, sondern zu schweigen. Das ist überhaupt häufig die klügste Antwort auf Fragen nach Schuld. Und das ist die dritte Entdeckung.

Ein Freund erzählte mir, wie er einmal in der Fußgängerzone christliche Traktate verteilt hat. Eine Frau sah ihm in die Augen und fragte: „Warum lässt Gott so viel Leid zu?“ Und er antwortete wortreich mit vielen Erklärungen, vielleicht ein wenig so wie die Freunde Hiobs. Lebensberater und Theologen tappen gern in die Falle, mit Erklärungen aufzuwarten. Die Frau hörte zu und sagte: „Warum habe ich dann ein behindertes Kind?“ Da wurden beide still – und gaben damit die richtige Antwort. So wie die Frau mit ihrem Leben die richtige Antwort gibt, indem sie ihr Kind sehr liebt.

Schweigen – ich möchte das noch ausdehnen. Wie wäre es, wenn wir eine Zeit lang „Schuldenfasten“. Wenn wir die Frage nach der Schuld eine Zeit lang nicht stellen. Das heißt nicht, dass die Frage nach der Schuld schlecht ist oder verboten, genau wie Essen nicht schlecht ist. Aber es kann doch sehr klug sein, eine Zeit lang zu fasten und bewusst nichts zu essen.

So ist wohl auch bei der Schuld. Denn Schuld entzweit. Fast jede Ehe, die auseinander geht, zerbricht an diesem Thema Schuld. Einer gibt dem anderen die Schuld, oder einer fühlt sich so sehr schuldig, dass das Gemeinsame daran zugrunde geht.

Menschen in schwierigen Situationen oder nach einer Katastrophe beginnen häufig, sich oder anderen die Schuld an dem Geschehenen zu geben. Wenn sie das tun, sind sie in einer ähnlichen Gefahr wie Überlebende eines Autounfalls: Sie haben den Zusammenstoß überstanden, aber nun können sie durch die Explosion des Benzintanks sterben. Deswegen ist es wichtig, aus dem Gefahrenbereich der Schuld herauszukommen.

Sie sind einfach zu selten geworden, die Momente, wo wir einfach still sind. Wo wir vor den gemeinsamen übergroßen Anforderungen des Lebens klein sein dürfen und stumm. Wo Ehepartner nicht vorwurfsvoll fragen: Warum musst du so viel arbeiten? Warum brauchst du so viel Geld? Warum bist du so gereizt? Warum bist du nicht zärtlicher? Sondern wo sie sich ansehen und spüren: Es sind harte Zeiten. Es wird viel von uns gefordert.

Das sind die großen menschlichen Momente, die in den großen Katastrophen vielleicht sogar leichter entstehen als in den alltäglichen Problemen: Wo Menschen in den Schlammmassen stehen und sich helfen, Sandsäcke tragen oder spenden, Verletzte bergen und pflegen, wo sie sich nahe sind und nicht Erklärungen suchen, wo keine Vorwürfe laut werden und das Thema Schuld einfach mal Pause hat.

Ich bin sicher, dass das sehr gesund sein kann, nicht nur nach einem Schicksalsschlag: Eine Woche ohne Vorwürfe, ohne Schuldzuweisungen, ohne Selbstbeschuldigungen, ohne Scham. Gemeinsam schweigen, das schafft Gemeinsamkeit. Das sind die ergreifendsten Augenblicke auch im Buch Hiob: Als am Anfang die Freunde eine Woche lang schweigen, und als Hiob am Schluss seine Hand auf seinen Mund legt.

Zum Schuldenfasten gehört die Nähe. Die Freunde sagen nichts, bleiben aber da. Gemeinsam schweigen, sich still berühren, Verbindung suchen über das Herz, nicht über Mund und Ohr.

Musik: Joseph Gabriel Rheinberger, Bleib bei uns, denn es will Abend werden

4. Entdeckung: Die Frage ist überhaupt keine Frage

Wie kann Gott das zulassen? Das ist die vierte Entdeckung: Die Frage ist überhaupt keine Frage. Sie ist ein Hilfeschrei. Übersetzt heißt sie: Bleib bei mir. Stell mit mir zusammen diese Frage. Lass uns gemeinsam schreiend schweigen. Daraus wächst Kraft, wahre Kraft. Das ist mir immer wieder aufgefallen – in den Bildern nach dem Anschlag auf das World Trade Center, in den Berichten über die Rettungs- und Aufräumarbeiten nach dem Hochwasser: Die größere Kraft habe ich immer dort gespürt, wo Menschen schwitzend, aber still helfen. Wenn Politiker oder auch Betroffene wortreich geklagt haben, nach Konsequenzen gerufen und Umdenken gefordert haben, dann war das vergleichsweise kraftlos.

Ich bin überzeugt: Menschen, die bei einem Unglück still geholfen haben, haben danach mehr Kraft, etwas zur Vermeidung zukünftiger Unglücke zu tun, als das durch Gerichtsurteile oder Gesetze geschehen könnte. Nach jeder Katastrophe gibt es Kurzschlusshandlungen, schnelle einfache Er klärungen, Racheakte und Hauruck-Aktionen – meist angezettelt von denen, die nicht wirklich dabei waren. Menschen aber, die dem Unglück schweigend nahe waren, werden das tun, was wirklich hilft, solches Unglück in Zukunft zu vermeiden. Sie werden mehr und anderes tun als die, die nur Recht behalten oder einen Schuldigen bestrafen wollen.

5. Entdeckung: Gott selbst stellt diese Frage auch

Wie kann Gott das zulassen? Ein Hilfeschrei, keine Frage, ohne Zwang nach Antwort. Aber ist die Frage deswegen falsch? Nein. Sie gehört zum Innersten des Menschen – und zum Innersten Gottes. Ich habe dazu eine Geschichte gehört:

In einem Gefangenenlager fehlt, als die Soldaten nachzählen, eine Schaufel. Der Lagerkommandant lässt alle antreten. Der Schuldige soll sich melden, aber keiner tritt vor. Da gibt er den Befehl, dass alle Gefangenen getötet werden, wenn sich der Täter nicht meldet. Darauf tritt einer schweigend einen Schritt nach vorne, und er wird erschossen. Die Gefangenen dürfen wegtreten. Als die Soldaten danach die Schaufeln noch einmal zählen, merken sie, dass keine fehlt. Sie hatten sich verzählt.

Solche Geschichten, ob sie nun wahr sind oder nicht, werden manchmal erzählt, um die Bedeutung des Opfertodes Jesu Christi zu erläutern. Sie zeichnen eindrucksvoll die liebevolle Hingabe des Sohnes Gottes. Aber solche Geschichten haben einen schrecklichen Nebeneffekt: Denn sie zeichnen einen grausamen Lagerkommandanten-Gott, von unerträglicher Härte und Ungerechtigkeit. Nein, solche Geschichten sind falsch. Bei solchen Geschichten frage ich mich nicht: Wie kann Gott das zulassen?, sondern eher: Wie kann jemand Gott das zutrauen?

Die Wahrheit der Bibel ist anders. Wie kann Gott das zulassen? Diese Frage stellt Jesus am Kreuz auch. Allerdings ein kleines, entscheidendes Bisschen anders. Er ruft nicht: Wie kannst du, Gott, das zulassen? Sondern: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Die Szenerie, dass Gottes Sohn einen entsetzlichen Foltertod sterben muss, das war nicht ein entsetzlicher Einfall des grausamen Lagerkommandanten-Gottes, sondern es war ein Einfall des Hohen Rates, des römischen Gouverneurs und der menschenverachtenden Tradition der Todesstrafe.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das ist der Beginn des 22. Psalms, den jeder Jude auswendig beten konnte. „Sei nicht ferne von mir!“ heißt es dort weiter, „Er hat das Elend des Armen nicht verachtet, er hat sein Gesicht vor mir nicht verborgen.“ Das ist ein ganz anderer Gott als der strafende, donnernde Richter. „Als ich zu ihm schrie, erhörte er’s.“

 

Das Wesentliche dieses Leben bleibt davon unangetastet. Die Größe und die Herrlichkeit Gottes scheint durch all das hindurch. Wir können es nicht mit Worten ausdrücken, zumindest nicht mit verständlichen, vernünftigen Worten. Mit einem Stammeln vielleicht, einem Rufen, am besten gesungen.

Musik: J.S.Bach, Hosanna in Excelsis, h-moll-Messe

Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name,
dein Reich komme, dein Wille geschehe,
 wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute
und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen,
denn dein ist das Reich,
und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit.

Und der Friede Gottes, und die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
und die Weisheit seines Geistes, sei mit euch allen. Amen.