Predigt über Johannes 3,1-8, verfaßt von Hans Joachim Schliep
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Liebe
Gemeinde!
Es war eine ganz gewöhnliche Nacht. Hatte Paul geträumt? Oder war er nur
außergewöhnlich wach gewesen? Paul erinnerte sich nicht mehr. Nur eines wußte
er noch: Plötzlich war ihm klar geworden, sein Leben würde sich nicht mehr
entscheidend verändern, es würde in den Bahnen, in denen es jetzt verlief,
weiterverlaufen. Er war nicht erschrocken darüber. Schließlich hatte er ein
gesundes Selbstbewußtsein. Und wie er so lebte, wozu er es inzwischen gebracht
hatte, das war schon in Ordnung. Aber immerhin hatte er noch nie sein Leben so
aus einem Abstand heraus, so klar gesehen.
Es war wenige Tage vor Pauls 53. Geburtstag. Geboren war er 5 Jahre nach
Kriegsende, in einer thüringischen Kleinstadt. Sein Vater starb viel zu früh:
schon wenige Monate, nachdem die Familie die Flucht aus der DDR - kurz vor dem
Mauerbau - geschafft hatte. Dem Vater, der nach russischer Kriegsgefangenschaft
als kranker Mann seine Frau in Thüringen wiederfand, hatte keinen Weg mehr
gefunden, sich eine neue Existenz im "Westen" aufzubauen. Auch seine
Mutter war sich hier immer fremd vorgekommen. Er aber hatte sich durchgekämpft:
erst Realschule, dann schwere Jahre als Bauarbeiter, dann das Abitur in
Abendkursen und das Studium. Jetzt war er Ingenieur, mit Diplom - er baute
Brücken.
Statt des 53. Geburtstags sollte einen Monat später der 25. Hochzeitstag groß
gefeiert werden. Ja, Paul war seit fast 25 Jahren verheiratet: Silberne
Hochzeit. Seine Frau und er überlegten noch, ob sie dazu auch in die Kirche
gehen sollten. Die Tochter war jetzt schon 22, der Sohn, ein Nachkömmling,
gerade 13 Jahre alt. Vor drei Jahren erst hatten sie ihr eigenes Haus beziehen
können, nach eigenen Plänen gebaut. Die Kinder hatten dafür gesorgt, daß er
seine Zeit nicht nur im Baubüro zubrachte. Er hatte gleich in einer
Bürgerinitiative zum Aufbau des neuen Wohngebiets mitgemacht. Auch der
Kirchengemeinde hatten sie schon geholfen beim Umbau der Kirche, und in diesem
Jahr würden sie im Sommer zwei Kinder aus dem verstrahlten Gebiet um Tschernobyl
bei sich aufnehmen. Gewählt hatte Paul mal so, mal so. Bei der letzten Wahl war
er der Meinung, es müsse doch bei dem >Projekt Rot-Grün< bleiben, trotz
aller Probleme, die er mit dieser Regierung hatte. Selbst für eine Öko-Steuer
hatte er inzwischen Sympathien. War Paul stolz auf sein Leben? Eigentlich
nicht. Aber irgendwie zufrieden. Er hatte ja auch kein anderes, und es würde
eben nicht mehr viel anders werden!
Doch da war jene Nacht. Ihm war, als sei dieses Leben nirgendwo registriert,
als sei es vergangen, wenn er es mit ins Grab genommen hätte. Es war ein
Gefühl, als hätte er seinen Personalausweis vorgelegt und seine Identität sei
nicht anerkannt worden. Gewiß, sein Leben war nicht bedeutender als das
anderer, es war aber auch nicht unbedeutender. Er wollte nicht unbescheiden
sein. Aber irgendwo mußte es doch anerkannt werden, schließlich war es sein
Leben. "Oder bin ich ein ganz anderer als der, den ich kenne?"
Gab es noch ein zweites Leben? Seit jener Nacht ertappte Paul sich immer wieder
bei dem Gedanken, er müsse ein zweites Leben haben, das ihm selbst noch
unbekannt war. Es gab jetzt häufiger Augenblicke, in denen er auf der Suche
nach diesem Leben war, nach diesem anderen Menschen, der doch niemand anders
war als - er selbst. Manchmal freilich schoß es ihm durch den Kopf, es hinge
alles gar nicht von seinem Suchen, von seinem Nachdenken, von seinem Zupacken
ab, ein anderer Geist müsse noch einmal kräftig durch sein Leben wehen, der ein
Vertrauen stifte, das eben einfach da sei und nicht konstruiert oder kalkuliert
werden könne...
Wieviel hatte er von der Leistung, die sein Beruf ihm abverlangte, allein der
Liebe seiner Frau zu verdanken?! Bei diesem Gedanken war Paul irgendwie
gerührt, obwohl er sonst Rührung vor sich selbst verbarg. Wann hatte er seiner
Frau zuletzt einen Blumenstrauß mitgebracht, einfach so?
Wie wütend wäre er neulich geworden auf dem Bau, hätte er sich am Abend vorher
nicht so sehr über das ruppige Kompliment seines Dreizehnjährigen gefreut:
"Du bist doch noch ganz fit und vor allem sportlich immer noch gut
drauf!"
Paul erschrak über seine Neigung, die eigenen Fähigkeiten herauszustellen - und
überlegte, wieviele Menschen ihm im Laufe eines Tages trotzdem freundlich
begegneten, ja, wieviele Mitarbeiter sich von ihm sogar gelegentlich einen
persönlichen Rat holten. Und jetzt meldeten sich alte Freunde wieder, aus der
christlichen Jugendgruppe, der er aber nur kurze Zeit angehört hatte: Ob man
sich nicht einmal wieder treffen wolle?
Mußte es sein, daß seine Frau sich schon kurz nach dem Umzug in den
Kirchenvorstand wählen ließ? Das Amt der Elternbeiratsvorsitzenden hätte doch
gereicht! Aber immerhin, das gab er zu, Erziehungsfragen waren seitdem - schon
vor PISA - interessant geworden, und wenn seine Frau in der Kirche "Dienst"
hatte, begleitete er sie. Obwohl, er liebte Musicals, das Singen dieser Lieder
aus dem Gesangbuch fiel ihm schwer, und nie wußte er: Wann mußte man aufstehen,
wann blieb man sitzen?
Vor allem aber seine Älteste. Im Umgang mit ihr hatte Paul erfahren, daß
Anbieten, Vertrauen und Schenken gelegentlich Wunder wirken können. Und dann
war der Freund seiner Tochter ein prima Kerl, fast so etwas wie sein zweiter
Sohn. Seine Frau fand diesen jungen Mann von Anfang an sehr sympathisch. Dabei
vergaß er ganz, daß er der Meinung war, seine Tochter sei eigentlich noch zu
jung für die Liebe.
Sind am Ende die "Zweitleben" der Menschen für das eigene Leben, ja,
für die gute Zukunft des Lebens überhaupt viel wichtiger als die, die in
einschlägigen Lebensläufen aufgeschrieben werden? Darüber dachte er nach - seit
dieser Nacht. "Merkwürdig - dieses Leben, das man so spät noch zum ersten
Mal entdeckt, obwohl es immer da war, dieses Leben, das man erhält, statt es
selbst herzustellen, das zu einem gehört und das man doch nicht besitzt, das
kein anderes Leben als das eigene ist und doch so anders. Kommt dieses Leben
etwa von ganz woanders? Und seltsam, wie einem dieses >Zweitleben<
plötzlich einfällt, wie man einen ganz anderen, neuen Wind spürt, der einen
durchweht, manchmal auch kräftig durchpustet..."
Vor einigen Tagen kam der Junge maulend aus der Konfirmandenstunde. Die
Vikarin, die doch sonst ganz cool sei, habe die Konfi's schrecklich gelangweilt
mit so einer alten Geschichte. Wovon sie gehandelt habe, diese alte Geschichte?
Von einem Mann, einem Gelehrten, Nikodemus habe er geheißen und irgendetwas sei
mit einer neuen Geburt gewesen. Noch etwas: die Rede sei auch von einem Wind
gewesen, der habe geweht, wo er wolle. Das sei der Geist gewesen. >Geist<
- hatte der Junge gefragt, was das denn nun wieder sei?! Und warum dieser
Nikodemus denn erstens zu Jesus gekommen sei und zweitens gerade nachts? Er
hatte lange überlegt. Irgendwie, schien ihm, müsse er die Geschichte kennen.
Aber woher?
Heute ist Pauls Frau wieder dran - mit Kirchendienst. Er ist wieder einmal
mitgegangen, ihr zuliebe. Heute ist, schade, nicht die junge Vikarin, sondern
der Pastor, dran. Da sitzt Paul nun - und worum geht es? Ein Mann, der es zu
etwas gebracht hat, kommt zu Jesus, nachts. Und die beiden reden darüber, ob
ein Mensch "neu geboren" werden kann, auch wenn er schon erwachsen
ist. Das ist doch unmöglich, wendet der gelehrte Nikodemus ein. Eigentlich
möchte er ihm zustimmen. Doch er widerspricht: Es geht schon, wenn ein Mensch
sich seines "Zweitlebens" plötzlich bewußt wird. So könnte man das
doch auch übersetzen, was Jesus meint mit dem "Geborenwerden aus Wasser
und Geist". Wann kommt der Pastor endlich drauf?
Nun ja, vielleicht meint er eben das, wenn er gerade von der anderen Kraft
spricht, die das Leben eines Menschen bestimmt, von dem Geheimnis, das sich nur
zwischen dem einzelnen Menschen und Gott abspielt und das einem meistens nur in
seltenen Augenblicken, nachts zum Beispiel, so richtig klar wird. Und jetzt
sagt er noch: "Die Welt wird weniger durch das in Gang gehalten, was
Menschen ersinnen und vollbringen, als durch das, was ihnen auf ewig verborgen
bleibt. Und Leben, das diesen Namen verdient, ist mehr als >alles richtig
machen<, mehr sogar als >gut sein<; Leben ist geliebt werden."
Paul weiß gar nicht, ob er an Gott glauben kann. Aber er weiß nun, es gibt
dieses "Zweitleben" - und auch das muß irgendwo herkommen und
irgendwo hinführen, irgendwo verzeichnet sein, damit es vor dem Vergessen
bewahrt wird.
Jetzt aber laufen Pauls Gedanken in eine ganz andere Richtung. Er hört den
Pastor reden - wie einen Nachrichtensprecher im Hintergrund. Er denkt dabei an
den Konstruktionsfehler, den er in den Bauplänen für die neue Brücke vorgestern
erst entdeckt hat. Wenn der unentdeckt geblieben wäre - was hätte alles
Schlimmes passieren können? Paul, der Chef-Ingenieur, hätte die Verantwortung
gehabt. Hätte er sie tragen, hätte er sie auf sein Gewissen nehmen können?
Schon öfter hatte er innerlich gezittert bei diesem Gedanken - dann aber wieder
auf die Präzision der Berechnungen und der Technik und auf die Kontrollen
gesetzt. Doch wenn die Kontrollen versagen - wie bei diesem schrecklichen
Zugunglück vor Jahren? Den Gerichtsprozeß hat man ja eingestellt. Es ist
richtig: Man muß nach den Fehlerquellen fahnden, Sicherheit geht über alles,
sie darf nicht den Kosten geopfert werden. Aber - so fragt Paul sich weiter,
während der Pastor immer noch spricht -: Reicht es aus, wenn die Frage nach der
Schuld bloß auf das konzentriert, ja, reduziert wird, was technisch falsch
gemacht oder durch menschliches Versagen versäumt wurde? Und warum hat er den
Fehler bemerkt, andere nicht? Seit Paul auf sein "Zweitleben"
gekommen ist, kommen auch solche Fragen - Fragen nach dem Geheimnis des
Menschen, dem vom einen Augenblick zum anderen ein böses Geschick zustößt oder
dem ein Glück zuteil wird, das ihn einfach überwältigt. Solche Fragen werden
doch selten gestellt, denkt er. Kann ein Mensch sie überhaupt beantworten?
Nun bekommt Paul nur noch die Reste der Predigt mit. Irgendwie muß der Pastor
doch genau davon gesprochen haben. Paul hört nur noch, mit einer solchen
abgrundtiefen Frage auf den Lippen sei Jesus Christus gestorben. Aber Jesus
habe diese Frage, habe alle seine Erschütterung, seine Zerrissenheit, seine
innere Unruhe vor Gott ausgebreitet. So sei er in seiner Verlorenheit sich
nicht verloren vorgekommen. So habe er sich einem Leben, einer Kraft
anvertraut, die über seine eigene hinausreichte, in der sein Leben aufgehoben
sei, sein Schmerz ebenso wie sein Glück. Eine Kraft, die man nur >Gott<
nennen könne, weil sie über alles menschliche Vorstellen und Vermögen hinaus
sei, die Zuflucht gewähre hinter allen unseren Fluchten und allen Flüchen, von
denen die Menschheit besessen sei. Seither wohne Gott auch im Schmerz dieser
Welt, wo die ganz, ganz schweren Ruder gehen, mittendrin auch in den
Konstruktionsfehlern, wo man nur noch schreien kann: "Um Himmels
willen!" - ebenso wie dort, wo man nur noch staunend rufen kann: "Dem
Himmel sei Dank!".
"Ich werde meiner Frau nachher vorschlagen, daß wir unsere Silberne
Hochzeit auf jeden Fall mit einem Gottesdienst feiern.", denkt Paul.
Diese Kraft, geht der Prediger zum Schluß über, ist gegenwärtig in dem Brot und
dem Wein, die im Namen Jesu ausgeteilt werden. An ihr kannst du teilhaben, von
ihr kannst du etwas abbekommen in der Feier des Lebens - deines
"Erstlebens" und deines "Zweitlebens". Ja, unser ganzes
Leben steht im Licht der Liebe und der Gnade. Und ist bewegt von einem Geist,
den du nicht greifen kannst, der dich aber ergreift in der plötzlichen
Einsicht, daß - selbst wenn die Schrecken und das Böse das letzte Wort
beanspruchen - Gott schon ein anderes, das aller-letzte Wort gesprochen, dich
in der Taufe und im Abendmahl mit dem aller-gültigsten Namen angesprochen hat:
Jesus Christus. In diesen Namen sind unser aller Namen eingezeichnet, in diesem
Leben ist unser aller Leben anerkannt. Sein Leben ist Ausweis unseres Lebens,
unserer Identität. Das heißt: Am Ende geht es gut aus. Gott führt es herrlich
hinaus.
Und wir nun hier in
diesem Gottesdienst? Noch vor diesem Ende singen wir unser Glaubenslied - wie
ein Vogel, geweckt vom heraufziehenden Tag, vom Licht eines neuen Morgens, das
in eine gewöhnliche Nacht dringt.
Amen.
Es folgt als Lied der
Gemeinde EG 184,1-4: "Wir glauben Gott im höchsten Thron...".
Nach einer Idee von H.
D. Osenberg: Zeit, die uns bleibt. Meditationen im Alltag, Hamburg 1975.
Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Fon/Fax 0511 - 52 75 99
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de