10. November 2002
Manfred Kock
Der 90. Psalm
Ein Gebet des Mose,
des Mannes Gottes.
Herr, du bis unsre Zuflucht für und für.
Ehe denn die Berge wurden
und die Erde und die Welt
geschaffen wurden,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der du die Menschen lässest sterben
und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!
Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag,
der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.
Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom,
sie sind wie ein Schlaf,
wie ein Gras, das am Morgen noch sproßt und des
Abends welkt und verdorrt.
Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen,
und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen.
Denn unsre Missetaten stellst du vor dich,
unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht.
Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn,
wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.
Unser Leben währet siebzig Jahre,
und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre,
und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe;
denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.
Wer glaubt’s aber, daß du
so sehr zürnest,
und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm?
Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen,
auf daß wir klug werden.
Herr, kehre dich doch endlich wieder zu uns
und sei deinen Knechten gnädig!
Fülle uns frühe mit deiner Gnade,
so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang.
Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest,
nachdem wir so lange Unglück leiden.
Zeige deinen Knechten deine Werke
und deine Herrlichkeit ihren Kindern.
Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich
und fördere das Werk unsrer Hände bei uns.
Ja, das Werk unsrer Hände wollest du fördern!
Der 90. Psalm ist Mose
in den Mund gelegt. Seine Erfahrungskraft ist in die Worte eingedrungen.
In seiner Vollmacht klagt, beschwört und betet er dieses Lied.
1. Gott unsere Zuflucht.
Voll Vertrauen beginnt der Psalm.
Dann wird er ein schwermütiges Lied:
Vergänglich und vergeblich ist alles menschliche Tun.
Fern ist der ewige Gott,
„denn tausend Jahre sind vor ihm wie ein Tag.“
Und hier ist der Mensch:
Er „ist Staub und ist Gras, das morgens blüht
und abends abgehauen wird und verdorrt.“
Es scheint ein rigoroser Gott zu sein,
vor dem der Mensch ganz winzig ist.
Ein unendlicher Abstand ist zwischen Gott und Mensch.
Kein Kampf, keine Auflehnung findet statt in diesem Psalm angesichts des
unendlichen Abstandes,
nur Klage:
siebzig oder achtzig Jahre,
auf jeden Fall ist es Mühsal und Arbeit.
Das Leben „fliegt dahin, als flögen wir davon.“
Nicht Krieg, nicht Flucht, nicht Verfolgung
lassen klagen und in den bergenden Schutz Gottes flüchten, es ist das Elend und
die Verzweiflung darüber, dass Gott so fern ist, so jenseitig weggerückt, und
das Leben so vergänglich. Schwermut und Melancholie liegen über dem Psalm.
Zwei Bücher gibt es in der Heiligen Schrift,
die so wie dieser Psalm die Vergänglichkeit des Menschen beschreiben: Das Buch
Hiob und der Prediger Salomo.
„Es ist das Unglück bei allem, was unter der
Sonne geschieht, es ist alles eitel.“ sagt der Prediger Salomo.
Und im Hiob-Buch heißt es:
„Der Mensch -....geht auf wie eine Blume, fällt ab, flieht wie ein Schatten
und bleibt nicht.“
Treffen solche Sätze unsere Stimmung? Wohl
nicht ständig. Aber einfühlen können wir uns doch.
Treffen solche Texte das Lebensgefühl der heutigen Welt? Sie ist äußerlich laut
und kreischend, als wollte sie die Nachrichten über den Terror im Nahen Osten
und in Indonesien, über die verzweifelte Lage in Tschetschenien, über die
zerfallenen Ordnungen in Afrika übertönen. Auch hinter glänzenden Fassaden bei
uns versteckt sich oft heulendes Elend.
Man ahnt den fernen Gott,
aber er scheint so abstrakt und unendlich, scheint nicht hineinzureichen in die
Abgründe der Welt.
Und so machen Menschen sich auf die Flucht in den Konsum, und darin erschöpft
sich dann das ganze Elend dieser Welt.
Es ist das Elend einer Welt, die mit Gott nichts anzufangen weiß, nicht erst
neuerdings, sondern immer schon.
2. Solche Stimmung ist in dem
Psalm verdichtet.
Seit zweitausendfünfhundert Jahren.
Aber diese Stimmung ist nicht einfach Resignation.
Sie ist Protest.
Kein lauter, aber doch auf die Spitze getriebener Protest.
Protest gegen den fernen Sternengott, den nichts zu bewegen scheint, als sein
Zorn über all unsere Schuld.
Die Sterblichkeit nehmen wir an, - was bleibt uns übrig?! Nicht aber diese Vergeblichkeit!
Fast scheint es, als bliebe dem Psalmbeter in seinem ohnmächtigen Protest nur
noch die nackte Verzweiflung.
„Wer glaubt, dass du so sehr zürnest, wer fürchtet sich vor dir in deinem
Grimm?“
Das klingt nicht nach Rebellion, eher doch nach Resignation angesichts der
unerträglichen Bedrückung aller Kreatur.
Genau an diesem Punkt ereignet sich die Wende
in diesem Gebet: Hin zu dem Gott, den das Volk erfahren hat als den anderen,
den helfenden, rettenden Gott.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“ – oder anders übersetzt:
„Lehre uns unsere Tage zu zählen, auf dass wir klug werden.
HERR, wende dich uns endlich zu.
Hab Mitleid mit deinen Knechten, oh Gott.“
Gott wird hier mit dem Namen angeredet, mit dem
Gottesnamen. Wir übertragen den Namen mit „Herr“, denn den Namen spricht Israel
aus Ehrfurcht nie aus. ER ist es, ER, der Ewige, kann lehren, die Tage zu
zählen. ER soll sich in seiner Gnade zu uns wenden.
Unsere Sterblichkeit lasst uns annehmen! Aber
unsere Vergeblichkeit, die Sinnlosigkeit unseres Tuns,
sie wollen wir nicht annehmen.
Sie muss durch Gott gewandelt werden. Das ist die Hoffnung des Psalms.
3. Unsere Zeit ist befristet.
Wie gehen wir damit um?
Haben wir nur diesen einen Blick auf unsere Lebenszeit - „als flögen wir
davon“?
Verpasste Gelegenheiten, ungelebte Tage?
Siebzig oder achtzig Jahre, das ist die volle
Lebenszeit in der Weisheit Israels. Siebzig Jahre durchschnittliche
Lebensdauer, das ist lange im Vergleich zu früher. Lange auch im Vergleich zu
Äthiopien heute. Da ist der Durchschnitt eben dreißig Jahre. Aber was ist schon
die Dauer der Zeit?
Ein einziger Leidenstag kann sich hinziehen wie eine Ewigkeit; während siebzig
oder achtzig mal 365 Tage dahingeplämpert werden
können.
Arbeit, Mühe und Plage, Mühsal, wie erleben wir sie?
Wie haben wir sie gelebt?
Als erfüllte Zeit oder als sinnloses Treiben?
„Lehre uns die Tage zu zählen.“ Das heißt: Lass uns unsere Grenze annehmen! So betet
der Psalm.
Dann kann jeder Tag ein Geschenk sein.
Das Psalmgebet zeigt uns den Weg zu dieser Erfahrung. Es wendet sich hin zu dem
helfenden, sorgenden Gott:
„Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein
unser leben Lang. Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das
Werk unserer Hände, ja das Werk unserer Hände wolle er fördern.“
Das Gebet ist umgeschwungen:
Eben noch war da der ferne Jenseitige, eben noch die Vergeblichkeit, die
sinnlose Plackerei.
Und nun auf einmal die Wege Gottes, der anders ist,
der den Menschen, der uns Menschen erneuert, der die Arbeitenden mit Sinn
erfüllen kann.
„Fördere das Werke unserer Hände!“
In Einklang mit ihm, dem helfenden Gott.
4. Wir beten den Psalm nach Auschwitz und Hieroshima;
unter dem Eindruck von Terroranschlägen in New York, in Bali, in Moskau.
Wir beten mitten im millionenfachen Sterben der Hungernden dieser Welt.
Nicht die unendliche Beschränktheit, wie es zunächst scheint und auch nicht die
abgründige Niedrigkeit des Menschen ist es, die der Psalmbeter zu überwinden
hat. Es ist das Ungeheuerliche des Menschen. „Nichts ist ungeheurer als der
Mensch“, sagt die antike Tragödie.
Die Natur haben wir Menschen uns gefügig gemacht. Wir können alles, aber wir
dürfen nicht alles. Der Traum von der Optimierung des Menschenlebens ist,
möglichst ohne Krankheit und ohne Einschränkungen im Alter zu leben, das ist
die große Sehnsucht. Nach Umfrageergebnissen hegt die überwiegende Zahl der
Menschen diese Hoffnung. Das nutzen Publicity-süchtige
Wissenschaftler ebenso wie für Tausende, die danach dürsten, sich klonen und
verewigen zu lassen.
Wäre es wohl wirklich ein Gewinn für den Menschen, wenn er unsterblich wäre?
Wenn er nicht vergeht, wenn er nicht dahin muss?
Wir brauchen das Wissen um unsere Grenze.
Wir Menschen sind in der Unendlichkeit des Alls nur ein winziger Vorgang. Aber
ausgezeichnet mit dem Wissen vom Anfang und vom Ende.
Ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz:
Manchmal stehen wir auf
stehen wir zur Auferstehung auf
mitten am Tage
mit unserem lebendigen Haar
mit unserer atmenden Haut
Nur das Gewohnte ist um uns
keine Fata Morgana von Palmen
mit weidenden Löwen
und sanften Wölfen
und dennoch leicht
und unverwundbar
geordnet in geheimnisvoller Ordnung
vorweggenommen in ein Haus von Licht.
Wir bauen darauf, dass Gott uns kennt.
Er zählt unsere Tage,
nicht nur Vergänglichkeit zeigt das an,
es ist tiefe Fürsorge einbeschlossen.
Unsere Zeit steht in Seinen Händen.
Die gezählten Tage – wir können sie nutzen, Gott zu rühmen und fröhlich darin
zu sein.
Jetzt ist Herbstzeit. Wir erinnern uns an die Gestorbenen, wir besuchen ihre
Gräber und denken mit Wehmut an diejenigen, die von uns gegangen sind.
In Deutschland macht man sich daran, Friedhöfe zu privatisieren, zur Entsorgung
der Toten nach unternehmerischen Gesichtspunkten erfolgen. Die Asche der
Verstorbenen will man in die Verfügung ihrer Angehörigen übergeben. In Wiesen
und Wälder soll sie verstreut werden dürfen, ohne dass diese Orte noch als
Friedhöfe erkennbar sein sollen. Es kann ja sein, dass der Wunsch so zu
verfahren, daher rührt, dass immer mehr Menschen ohne nahe Angehörige
versterben oder dass sie glauben, sie dürften ihren Hinterblieben
nicht die Last der Grabpflege zumuten. Gewiss mancherorts kann man schon jetzt
auf eine individuelle Grabstätte verzichten, bei der anonymen Bestattung oder
der Urnenbeisetzung auf hoher See. Aber nun soll dies zu einer durchgängigen
Praxis werden. Damit würde jedoch die Kultur des Gedenkens sterben. Aber
Vergesslichkeit erleichtert nicht, sie versperrt den Weg zur Zukunft.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“
Wir brauchen die Orte des Gedenkens, wir brauchen Orte für die Erinnerung.
Der Herr, unser Gott, sei uns freundlich
und fördere das Werk unserer Hände.
Amen